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Die Tage des Kriegsendes in Grillenburg aus Sicht einer Einwohnerin

Veröffentlicht: 29.06.2023 / Aktualisiert: 03.08.2023

Im Jahr 2005 fand ein Grillenburger Einwohner beim Graben eines Fundaments für einen Gartengrill im Boden eine Waffe aus dem Zweiten Weltkrieg: Es handelte sich um eine sogenannte Luftfaust, die von der Schulter abgeschossen wurde und als Abwehrmöglichkeit gegen Tieffliegerangriffe gedacht war. Sehr wahrscheinlich steht sie im Zusammenhang mit den Ereignissen zu Kriegsende, während derer sie wohl in dem Garten vergraben wurde.1

Die Zeit des Kriegsendes hat eine Grillenburgerin in einem siebenseitigen, nach dem 1. Juli 1945 verfassten Brief detailliert beschrieben. Ihr Hof befand sich auf der heutigen Seerenteichstraße. Einleitend fasste sie das Kriegsende so zusammen: „Schreckliche Tage u. Wochen liegen hinter uns. Die russi[sch]e Walze ist über uns hinwegegangen, es war furchtbar, aber der liebe Gott hat uns beschützt, wir leben noch [,] körperIich haben uns die Russen nichts getan.“ 2 Schon zuvor war der kleine Ort mitten im Tharandter Wald in hohem Maße von den Ereignissen der letzten Kriegsphase betroffen. Er war Durchzugsroute von Menschen, die aus dem bombardierten Dresden kamen und die von weiter her vor der heranrückenden Roten Armee geflüchtet waren. Viele fanden hier auch Unterkunft, wie die Briefschreiberin berichtete: „[…] manche Nacht waren 25 Personen in unsrem Gehöft, dazu kamen die vielen deutschen Soldaten [,] die wir unterbringen mußten, eine Fahr[kolonne], im Hof standen 4 Autos [,] viele Motorräder, dann wieder die Kochkolonne, im Stall die Pferde vom General.“ 3

6. Mai 1945: Leerung des Dorfes und Ankunft der ersten Rotarmisten

Die große deutsche Militärpräsenz stand vermutlich im Zusammenhang mit der Sächsischen Reichstatthalterei, deren Sitz nach der Bombardierung Dresdens provisorisch auf den Sächsischen Jägerhof nach Grillenburg verlegt worden war.4 Statt den Ort zu verteidigen, „[haben] die führenden Nazis […] das Dorf treulos verlassen“5 wie die Briefeschreiberin notierte. Der Sächsische Reichstatthalter und Gauleiter Martin Mutschmann und seine Leute flüchteten am 6. Mai 1945 aus Grillenburg.6

Auch die in Grillenburg stationierten Einheiten der Wehrmacht und SS zogen an dem Tag ab und überließen den kleinen Ort seinem Schicksaal. Zwei Soldaten schafften zuvor, gegen 14 Uhr, noch Munition in den Teich und warnten, dass die Rote Armee bereits in Mohorn-Grund sei.7 Viele Waffen und Munition blieben allerdings zurück, darunter wohl auch 70 Panzerfäuste, die im Sächsischen Jägerhof eingelagert waren.8 Auch die meisten Einwohnerinnen und Einwohner sowie die meisten Geflüchteten verließen auf Anweisung des Bürgermeisters Hübel den Ort, so dass es im Dorf ganz still war.9Nur die [A]lten und Kranken waren dageblieben“10, wie sie sich erinnerte. Die wenigen, etwa 20 Verbliebenen bemühten sich, das Kriegsmaterial zu entsorgen oder im Wald zu verstecken. So erinnerte sich die Briefschreiberin, dass sie eine am Hoftor lehnende Panzerfaust unter der Brücke zur Schlossinsel versteckten und in der Scheune zurückgelassene Militärsachen in den Wald schafften.11

Schon am Nachmittag des 6. Mai sollen laut Erinnerung der Briefschreiberin erste Rotarmisten in den Ort gelangt sein, dann kamen immer mehr.12 Am Abend gegen 21 Uhr entging die damals 60-jährige nur knapp einer Vergewaltigung. Eine bei ihr einquartierte Pfarrersfrau ähnlichen Alters wurde hingegen trotz Bitten ihres Mannes vergewaltigt. Die weitere Nacht verbrachten die Bewohner des Hofes in Angst.13

Grillenburger Gondelteich mit Brücke zur Schlossinsel, unter der Einwohner im Mai 1945 eine Panzerfaust vor der Roten Armee versteckten. Fotografie 2023.

7. Mai: Plünderungen und Einquartierungen

Für den 7. Mai berichtete die Briefeschreiberin von Plünderungen, die schon im Morgengrauen begannen. Außer dem Kassenschrank wurden alle Kisten und Kästen durchwühlt und alles Wertvolle mitgenommen. Zunächst waren es vier bis fünf Rotarmisten, die das Haus durchsuchten. Dann waren 30 bis 50 im Keller zugange, wo sich versteckte Koffer und Wertsachen befanden. Zehn weitere Rotarmisten machten ein Auto zur Abfahrt bereit.14

Von diesem Tag berichtete die Briefschreiberin weiterhin: „Nachmittag wurde Quartier verlangt für einen Major, der die Oberstube bezog, in die Nebenkammer 2 Offiziere, 2 ‚Russenweiber in Uniform‘ schliefen in Kadens Zimmer u. ein Offizier schlief in der hinteren Kammer, […]. In der Stube lagen auch ein paar Russen […].“15 Durch die Einquartierungen und einen Posten vor dem Tor war der Hof der Briefschreiberin dann zunächst vor weiteren Plünderungen geschützt.16

8. Mai: „Kriegslager“ und Siegesfeier in Grillenburg

Für die Nacht vom 7. zum 8. Mai berichtete eine andere Zeitzeugin, die spätere Bürgermeisterin Margarethe Poch, von ununterbrochenen nächtlichen Bewegungen von Panzern der Roten Armee, die im Schutz des Tharandter Waldes wohl für weitere Angriffsoperationen bereitgestellt wurden.17 Am 8. Mai waren dann so viele Rotarmisten in Grillenburg, dass Margarethe Poch in ihrem Bericht schrieb: „Vom 8.5. an waren wir ein Kriegslager, in jedem Garten und auf jeder Wiese standen Pferdewagen, kleine Autos, Transportautos, es gab keinen Weg zum Wald [,] alles war befahren“18 Auf dem Hof der Familie Poch wurde an dem Tag ein Oberst der Roten Armee mit 10 Offizieren einquartiert. Die Einquartierung wechselte dann jeden Tag.19

Generell herrschte am 8. Mai wohl ausgelassene Stimmung im Ort, wie die Briefschreiberin berichtete: „[…]  da war es toll in Grillenburg. Ein Russenwagen jagte den anderen [,] schöne Pferde [,] stattliche Menschen. Überall auf den Wiesen und Feldern brannten Freudenfeuer, dabei Musik und Gesang, Böllerschüsse und vieles mehr. Hier wurde der Frieden gefeiert. […] Ein Offizier dem ich einen Finger verband, klopfte mir auf die Schulter und sagte: ‚Krieg Schluß, Deutschland kaputt‘“ 20 In der Küche wurde alles gekocht und gebraten, was der Hof hergab und das Schloss war die ganze Nacht festlich beleuchtet.21

Wiesenflächen im südlichen Teil von Grillenburg. Dort und auf den weiteren Wiesen lagerten am 8. Mai Einheiten der Roten Armee und feierten das Kriegsende. Fotografie 2023.

9. Mai: Plünderungen, Zerstörungen, Mord und Suizid

Am Morgen des 9. Mai ging die Siegesfeier laut der Briefschreiberin dann weiter:„Früh um 4 Uhr ging die Schießerei los, es waren Freudenschüsse, schaurig schön rote u. grüne Leuchtkugelflogen über das Dorf [,] alles war feeenhaft beleuchtet, auf den Gärten u. Feldern auf dem Buchacker überall kleine Feuer, dazwischen lagen die Russen mit Wagen und Pferden, jubel[t]en und spielten Ziehharmonika, ein Radau zum Verrückwerden.“ 22

An dem Tag gingen allerdings die Plünderungen im Hof der Briefeschreiberin weiter, diesmal aber in großem Stil: „Vor der Haustür stand ein großes Russenauto [,] dann wurde bei uns ausgeräumt“23. Die einquartierten Offiziere und Soldaten reisten offenbar ab und nahmen alles mit, was ging: das große Radio einer einquartierten Familie, den Erntewagen, ein Fahrrad und die vielen, auf dem Hof eingelagerten Koffer und Körbe der dort untergekommenen Geflüchteten.24 „Dann rückten die Offiziere ab“, so die Briefschreiberin weiter, „[a]ber gleich kamen wieder andere Horden Franzosen, Polen, Italiener u. das [P]lündern ging weiter.“25Vermutlich handelte es sich um einstige Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter auf Durchzug.

Auch in den anderen Häusern und Höfen sah es nicht besser aus – sie waren ausgeplündert, teils komplett ausgeräumt und verwüstet. Auch das Vieh wurde entwendet und getötet, die Wasserleitung zerstört und der Teich abgelassen, so dass die Leute auf den Hof der Briefeschreiberin kamen und um Wasser baten.26

Die Briefschreiberin berichtete auch von der Erschießung eines Dorfbewohners durch Rotarmisten an diesem Tag sowie eines 59-jährigen Dresdner Arztes und seiner 55-jährigen Frau. Der Arzt war nach der Bombardierung der Großstadt in Grillenburg unterkommen und praktizierte dort.27 Wie der Bericht eines Grillenburgers zeigt, bei dem das Ehepaar untergebracht war, waren die beiden jedoch gar nicht erschossen worden, sondern hatten sich das Leben genommen. Schon am 8. Mai war der Arzt mehrmals von Rotarmisten drangsaliert und mit dem Tod bedroht worden, da er keinen Alkohol herausgeben konnte. Am Folgetag wurde ihm noch der Koffer mit den letzten Habseligkeiten genommen, die er aus dem brennenden Dresden retten konnte. Darüber war er offenbar so verzweifelt, dass er seine Frau überredete, mit ihm in den Wald zu gehen, um Selbstmord zu begehen. Die beiden wurden am 11. Mai erschossen aufgefunden und an Ort und Stelle begraben. Ihr Sohn, der am 3. Juni nach Grillenburg kam, um die Eltern nach Dresden zu holen, wo er eine Praxis und Wohnung für sie gefunden hatte, konnte nur noch ein paar Papiere in Empfang nehmen, die sie bei sich getragen hatten.28

Ebenfalls zu den Toten zu Kriegsende gehörten vier weitere Menschen, die erst am 21. Juni 1945 im Wald aufgefunden wurden. Es handelte sich um eine dreiköpfige Dresdner Familie, bestehend aus der 42-jährigen Mutter mit ihrer sechsjährigen Tochter und ihrem vierjährigen Sohn. Die vierte Person war ein ursprünglich aus Berlin stammender 61-jähriger Schauspieler, der dann in Dresden als Wachmann beschäftigt gewesen war, bevor er nach Grillenburg kam. Die vier wohnten bis zum 7. Mai zusammen bei einer Frau in Grillenburg, hatten an dem Tag die Unterkunft verlassen und waren nicht mehr gesehen worden. Der genaue Todestag war nicht mehr nachvollziehbar, als Todesursache wurde Selbstmord angegeben. Sie wurden an Ort und Stelle bestattet.29

In Grillenburg kehrte auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zunächst keine Ruhe ein. Dazu an anderer Stelle mehr.30

Anmerkungen
1. Vgl. Marschner 2005a. /// 2f. J. H. 1945, S. 1. /// 4. Siehe den Beitrag „Verlegung der Sächsischen Reichsstatthalterei von Dresden nach Grillenburg.“ /// 5f. J. H. 1945, S. 6. /// 7. Ebenda, S. 1. /// 8. Laut ebendort. /// 9. Laut ebendort, laut Poch A. 1946, S. 3 und laut Poch M. o. D., S. 2. /// 10. J. H. 1945, S. 1. /// 11. Laut ebendort. /// 12. Laut ebendort. Laut Poch M. o. D. kam in der Nacht vom 5. zum 6. Mai 1945 zunächst nur ein Auto in Grillenburg an, die ersten Rotarmisten dann erst am 7. Mai 1945. /// 13. Laut J. H. 1945, S. 1f. /// 14. Laut ebenda, S. 2. /// 15. Ebendort. /// 16. Laut ebendort. /// 17. Laut Poch M. o. D., S. 2. /// 18f. Ebendort. /// 20. J. H. 1945, S. 1f. /// 21ff. Ebenda, S. 2. /// 22. Laut ebendort. /// 23. Ebendort. /// 24. Laut ebendort. /// 25. Ebendort. /// 26f. Laut ebenda, S. 3. /// 28. Vgl. KA-SOE, 610-30, StA Dorfhain, Nr. 25, Niederschrift ohne Datum, nach dem 3.6.1945. Und laut Schmelzer o. D. /// 29. Vgl. KA-SOE, 610-30, StA Dorfhain, Nr. 25, Bericht. Über am 21. Juni 1945 aufgehobene 4 Leichname in Jagen 123 a des Staatsforstreviers Grillenburg. Grillenburg, am 28. Juni 1945 Oberforstwart. Und laut Schmelzer o. D. /// 30. Siehe den Beitrag „Die Wochen nach Kriegsende in Grillenburg.“
Einige der beschriebenen Orte, wie der Hof der Briefschreiberin und das „Mustergut“, befinden sich heute im Privateigentum und wurden aus diesem Grund weder fotografiert, noch kartiert.