In dem kleinen, mitten im Tharandter Wald liegenden Ort Grillenburg, kehrte auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zunächst keine Ruhe ein. Wie für die letzten Kriegstage auch,1 so stammen die meisten Informationen zu dieser Phase aus dem Brief einer Grillenburgerin, die bei der heutigen Seerenteichstraße wohnte.
Grillenburg wurde nach Kriegsende offenbar zu einem Standort, an dem sich andernorts abziehende Einheiten der Roten Armee sammelten. Eine Zeitzeugin erinnerte sich daran, dass sie dort am 10. Mai 1945 den aus Spechtshausen abgezogenen Einheiten wiederbegegnete, „große Panzer, Kampf- und Lastwagen, eine lange, lange Reihe“ 2. Die spätere Grillenburger Bürgermeisterin schrieb in einem Erinnerungsbericht von großen Truppendurchzügen und beim Dorf lagernden Einheiten.3
Das Schloss, in dem zuvor die Sächsische Reichsstatthalterei ansässig war, und das Mustergut4 dienten offenbar als Kommandostellen und Sammlungspunkte der Roten Armee, wie sich die Briefschreiberin erinnerte. Die Dorfbevölkerung wurde zu verschiedenen Dienstleistungen herangezogen. Wie schon in den letzten Kriegstagen, musste sie auch wieder Rotarmisten unterbringen und versorgen, wobei die Einquartierungen teils täglich wechselten. Vor allem hochrangige Armeeangehörige kamen in den Häusern und Höfen des Ortes unter.5
Für Ende Mai oder Anfang Juni 1945 berichtet die Briefschreiberin von der Ankunft vieler Einheiten: „In den letzten Tagen sind viele tausend Russen nach Grillenburg gekommen. Dauernd fuhren die schweren Autos unsre Straße rauf, vollbeladen mit Beutematerial. Vom Mustergut bis rüber an den Wald ist eine Zeltstadt u. überall stehen die Autos in den Wiesen u. Feldern, auf dem Buchacker, auf unserer Wiese hinter der Schmiede, auf Stephans Feldern. Vielleicht sammeln sie sich zur Abreise. Wir werden aufatmen.“ 6 Zunächst wohnte noch ein Oberst mit einer Frau mit Dresdner Dialekt und Kind im Haus der Briefschreiberin. Der Umgang war sehr freundlich und die „feine“ Versorgung erfolgte aus dem Militärlager.7 Tatsächlich wurde das Militärlager bald darauf – vermutlich Mitte Juni – aufgelöst, wie sie weiterschrieb: „Heute sagte mir die Dolmetscherin [,] das[s] Morgen alle fort machen. Die Zelte werden abgebrochen u. die Grillenburger müssen aufräumen. Wir können uns herrliches Holz u. viel schöne Bretter holen. Die Grillenburger Frauen müssen das Lager rein machen […].“8 Bei der Abreise wurden auch Kuhherden, die von den großen Gütern der Nachbardörfer stammten, verladen und mitgenommen.9
Anschließend notierte die Briefschreiberin: „Die Russen sind fort, es ist still im Dorf […] wir kommen mal zur Ruhe.10 Doch die Ruhe währte nicht lange, denn kurz danach hieß es: „Heute brachte der Bürgermeister Poch 2 Russen zu uns [,] die sollen 5-6 Tage bei uns wohnen u. essen […].“ 11Bei den beiden, die dann über sieben Wochen blieben, handelte es sich um russische Polizisten, die umherziehenden Polen Einhalt gebieten und die Heumahd beaufsichtigen sollten. Bei dieser mussten alle Männer und Frauen des Ortes mitarbeiten, darunter auch eine Baronin. Die Briefschreiberin selbst musste für die russischen Polizisten von diesen erlegtes Wild kochen, wodurch auch die Bewohner des Hofes versorgt waren.12 Als später „wieder viele Russen durch [Grillenburg] fahren mit vielen Hunderten von Pferden“ 13, war die Briefschreiberin froh, die beiden im Hause zu haben. Offenbar waren ihre Kochkünste sehr gut, denn ab Anfang Juli kam auf Vermittlung der Polizisten sonntags und teils auch samstags ein Kommandeur mit Frau, zwei Offizieren und zwei Chauffeuren zur Mittagszeit aus Dresden, um Hirschkeule zu essen.14 Ob es sich um den damaligen Dresdner Stadtkommandanten Oberst Gorochow handelte, ist unklar.
Die Briefschreiberin erwähnt auch noch Konflikte zwischen Rotarmisten und Polen sowie weitere Beherbergungen von Rotarmisten.15 Nachdem die letzten – wohl im Spätsommer oder Anfang Herbst – weg waren, schrieb sie: „Es ist ruhig geworden in unsrem Haus u. in unsrem Dorf. Wir haben die Russen kennen gelernt, es gab auch feine u. gute Menschen darunter [,] für alte Leute u. Kinder hatten sie immer ein gutes Herz.“ 16
Außer den Einheiten der Roten Armee zogen wie schon in der letzten Phase des Krieges auch im Mai und Juni 1945 zahlreiche Menschen durch Grillenburg und suchten teils Obdach für einige Zeit. So herrschte auf dem Hof der Briefschreiberin auch nach Auflösung des Militärlagers Anfang Juni reger Betrieb: „Aber im Haus bekomme ich keine Minute zur Ruhe. Dauernd kommen Flüchtlinge, die zurück nach Schlesien fahren, bitten um Brot u. Kartoffeln, was zu essen u. abends kommen die Leute mit ihren Wagen [,] wo sie ihr Hab und Gut drauf haben [,] da schlafen sie in der Scheune, sie wollen was gekocht haben, sich waschen, es sind viel [K]inder dabei.“ 17
Und auch die folgenden Wochen waren noch durch diverse Bewegungsabläufe geprägt, wie aus dem Brief zu erfahren ist. Vom Juni heißt es. „Es ziehen immer noch Flüchtlinge u. [T]recks durch unser Dorf. […] Heute abend kamen [wieder] viele große Autos mit Russen vollgeladen mit Tischen, Stühlen, Brettern, Betten u. Matra[t]zen u. fahren nach dem Mustergut[,] dort wird aufgebaut wie eine Vogelwiese. Wir leben wieder in Angst.“ 18
Tatsächlich suchten Rotarmisten noch mehrfach den Hof auf, um zu plündern oder nach Frauen zu suchen.19 Weitere Plünderungen erfolgten durch durchziehende ehemalige Kriegsgefangene, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus Polen, der Ukraine, Italien und Frankreich,20 die „nach Hause zogen von Arbeitseinzug in Deutschland, selbstverständlich verärgerte Menschen und nun Sieger“ 21, wie sich die spätere Bürgermeisterin erinnerte. Geplündert wurde alles, was noch da war: Kleider, eingelagerte Güter, Möbel und sogar die Öfen im Gemeindehaus. Auch viel Vieh wurde entwendet – Kaninchen, Kälber und Kühe.22 Die Briefschreiberin holte sich zum Schutz dann „alle Tage deutsche Soldaten herein […] die schliefen im Wohnzimmer, die armen deutschen Soldaten mit einem Bündel auf dem Rücken u. zerlumpt kamen sie in die Heimat auf Feld- und Waldwegen.“ 23
Wie aus einem Schreiben des Oberforstmeisters des sächsischen Forstamtes Tharandt vom 19. Juni 1945 hervorgeht, war auch der Sächsische Jägerhof mit allen zugehörigen Gebäuden ausgeplündert worden. Anders als zunächst angenommen, war hierfür offenbar nicht nur die Bevölkerung der umliegenden Orte verantwortlich.24 Denn nach Erkundigungen schrieb der Forstmeister am 26. Juni, dass die Gebäude schon während der Kampfhandlungen im Mai und der anschließenden Durchzüge der Roten Armee „wiederholt und gründlich“ ausgeplündert worden seien. Auch zum Zeitpunkt dieses Briefes gingen die Plünderungen und Zerstörungen weiter, wobei die eindringenden Rotarmisten gegenüber dem, mit der Betreuung und Bewachung beauftragten Revierförster immer wieder vorbrachten, „das alles hätte dem Reichsstatthalter Mutschmann gehört und müsse zerschlagen werden.“25
Nach Kriegsende gab es noch mindestens ein Todesopfer im Ort: Eine 19-jährige Frau aus Dresden, die zu der Zeit im Gasthof Grillenburg arbeitete und wohnte, wurde am 8. Juni 1945 am Abendbrottisch von einem Russen erschossen.26 Wie sich die spätere Bürgermeisterin erinnerte, soll die Frau aus Versehen erschossen worden und die verantwortliche Kompanie über Nacht verschwunden sein.27
Neuorganisation des Lebens und Folgen des Kriegsendes
Trotz der Durchzüge und fortwährenden Plünderungen normalisierte sich die Lage ab Mitte Mai in Grillenburg allmählich und im Bereich des Gemeinwesens entstand eine neue Ordnung: Am 15. Mai wurde Arthur Poch zum kommissarischen Bürgermeister gewählt und unter seiner Leitung ein „antifaschistisches Komitee“ gegründet. Einige Tage später wurde Poch vom Landrat im Amt bestätigt. Das Dorf füllte sich allmählich wieder: Die meisten der am 6. Mai geflüchteten Einwohnerinnen und Einwohner kehrten innerhalb von 14 Tagen zurück. Nur einige kamen erst Mitte Juni und sowie als letzte die Familie des ehemaligen Bürgermeisters Hübel Ende August zurück.28
Um das Chaos zu beseitigen, befahlen die sowjetischen Ordnungskräfte Aufräumarbeiten auf Straßen und in Gärten. Unter Aufsicht sowjetischer Polizistinnen mussten die Grillenburger Frauen und Männer ab dem 13. Mai die Straßen kehren, Gärten herrichten oder an der Straße bis Tharandt Bäume an gefährdeten Stellen und Wegkreuzungen zur Sicherung des Autoverkehrs weiß streichen. Ältere Menschen wurden nicht zu den Arbeiten herangezogen.29 Auch die Ortsansässigen versuchten ihre Dinge wieder in Ordnung zu bringen, wie die Briefschreiberin notierte: „Wir räumen nun langsam auf, waschen nach u. nach die alte schmutzige Wäsche [,] die überall rumliegt·, machen den Garten wieder in Ordnung und dabei kommt das Gemüt zur Ruhe. Vater […] macht die Schlösser u. Zäune wieder in Ordnung.“ 30
Auch die Versorgung mit Lebensmitteln wurde Mitte Mai in Angriff genommen. Umliegende Bauern stellten Butter für das Dorf her, Brot wurde mit viel Aufwand aus Freital-Hainsberg geholt und Vieh notgeschlachtet.31 Ab Sommer 1945 gab es auch neue Freiheiten. Während die meisten Wege im Wald und der Badeteich vor Kriegsende als Teile des Sächsischen Jägerhofs für die Dorfbevölkerung unzugänglich waren, notierte die Briefschreiberin nun: „Die verbotenen Wege im Wald sind alle wieder frei. Die Dorfbewohner dürfen baden im neuen Teich an der Eiche, es ist eine Lust u. Fröhlichkeit unter den Kindern.“ 32
Anmerkungen
1. Siehe dazu den Beitrag „Die Tage des Kriegsendes in Grillenburg aus Sicht einer Einwohnerin“. /// 2. Büttner 1946, S. 1. /// 3. Laut Poch M. o. D., S. 4. /// 4. Bei dem „Mustergut“ handelt es sich um die frühere Revierförsterei. Es war während der NS-Zeit Versorgungsgut des Sächsischen Jägerhofes und Kriegsgefangenenlager. Laut Information von André Kaiser, Grillenburg, vom 8.8.2022. /// 5. Laut J. H. 1945, S. 3 und laut Poch M. um 1955, S. 2. /// 6. J. H 1945, S. 3f. /// 7. Laut ebenda, S. 4. /// 8. Ebendort. /// 9. Laut ebendort. /// 10f. Ebenda, S. 5. /// 12. Laut ebendort. /// 13. Ebendort. /// 14. Laut ebendort. /// 15. Laut ebenda, S. 6. /// 16. Ebendort. /// 17. Ebenda, S. 5. /// 18. Ebenda, S. 4. /// 19. Laut ebenda, S. 3f. /// 20. Laut Poch M. o. D., S. 2, S. 4. /// 21. Ebenda, S. 4. /// 22. Laut ebenda, S. 3ff. /// 23. J. H 1945, S. 3. /// 24. Laut Sächsisches Forstamt Tharandt, Der Forstmeister an den Herrn Bürgermeister, Betr.: Ausstattung des Jägerhofes Grillenburg. Grillenburg, 19.6.1945, gez. Dr. Weisser (Oberforstmeister). Sammlung André Kaiser, Grillenburg. /// 25. An den Herrn Sächs. Landesforstmeister in Dresden, Betr.: Jagdschloß Grillenburg. Grillenburg, 24.6.1945, gez. Dr. Weisser (Oberforstmeister). Sammlung André Kaiser, Grillenburg. /// 26. Vgl. KA-SOE, 610-30, StA Dorfhain, Nr. 25, Bestätigung Erschießung [junge Frau], gez. komm. Bürgermeister A. Poch. Grillenburg, den 10. Juni 1945. /// 27. Laut Poch M. o. D., S. 3. /// 28. Laut ebenda, S. 2f., S. 5 und laut J. H. 1945, S. 4. /// 29. Laut Poch M. um 1955, S. 2. /// 30. J. H. 1945, S. 3. /// 31. Laut Poch M. o. D., S. 3. /// 32. J. H 1945, S. 4.
Einige der beschriebenen Orte, wie der Hof der Briefschreiberin und das „Mustergut“, befinden sich heute im Privateigentum und wurden aus diesem Grund weder fotografiert, noch kartiert.