Todesmärsche ziehen durch Sachsen
Mit Heranrücken der Kriegsfront ließen die nationalsozialistischen Machthaber ab Mitte 1944 zunächst im Osten, später auch im Westen Konzentrationslager und Konzentrations-Außenlager in den militärisch besetzten Gebieten sowie im Reichsgebiet auflösen und räumen. Die Gefangenen, die nicht in die Hände der Feinde gelangen sollten, mussten zu Tausenden unmenschliche Bahntransporte oder wochenlange Fußmärsche – die sogenannten Todesmärsche1 – zu anderen Lagern außerhalb der Kriegsgebiete antreten. Diese Märsche waren geprägt durch Grausamkeit und massenhaften Tod der Gefangenen. Notdürftig bekleidet und mangelhaft verpflegt schleppten sie sich durch die winterlichen Landschaften. Bei Fluchtversuch oder Nachlassen der Kräfte wurden sie von den SS- und anderen Wachleuten erschossen und blieben meist an Ort und Stelle liegen: Tausende Tote säumten die Straßen.2
Obwohl es in Sachsen kein großes Konzentrationslager gab, war es aufgrund des Kriegsverlaufs und der späten Besetzung durch die Alliierten Durchzuggebiet zahlreicher Todesmärsche. Nachdem bereits im Januar 1945 Gefangenentransporte mit der Bahn das Land tangiert hatten, führten ab Ende Januar 1945 Todesmärsche aus schlesischen Zwangslagern durch Sachsen. Mit Räumung der diversen sächsischen KZ-Außenlager ab März 1945 kam es zu einer neuen Welle von Todesmärschen und -transporten, die infolge der sich laufend verändernden militärischen Lage chaotisch verliefen.3
Durchzug eines Todesmarschs aus Außenlagern des KZ Groß Rosen durch den Tharandter Wald im Februar 1945
Auch die Gegend des Tharandter Waldes wurde im Frühjahr 1945 Durchzugsgebiet von Todesmärschen.
Der erste Marsch begann mit der Evakuierung der Außenlager des KZ Groß-Rosen Schlesiersee I + II im polnischen Sława am 21. Januar 1945. Ein Teil der über 1.000 meist jüdischen Frauen und Mädchen, die auf den Todesmarsch getrieben wurden, kamen aus diesen Lagern. Der Marsch war von Anfang bis Ende geprägt durch zahlreiche Morde, Massaker und erschöpfungsbedingte Todesfälle. Er führte auf einer Strecke von knapp 95 Kilometern zunächst ins KZ-Außenlager Grünberg in Zielona Gòra. Nach dessen Evakuierung am 29. Januar 1945 wurden die dort gefangenen Frauen und Mädchen zusammen mit denen aus den Schlesiersee-Lagern in zwei Gruppen geteilt: Eine Gruppe musste auf einen Bahntransport nach Bergen-Belsen, die andere knapp 1.100 Menschen umfassende Gruppe auf einen Marsch mit dem KZ Dachau als Ziel.5
Der Marsch dieser Frauen führte über Krzystkowice (Christianstadt) und nach der Oderüberquerung auf sächsischem Gebiet weiter über Bad Muskau, Weißwasser, Nochten, Salzenforst und gelangte am 16. Februar durch das zerstörte Dresden und am 17. Februar über die heutige B173 in die Gegend des Tharandter Waldes. Bis hierhin hatten die Frauen und Mädchen der Außenlager Schlesiersee I und II schon etwa 350 Kilometer zurückgelegt. Bei dem Durchzug durch Herzogswalde konnte ein jüdisches Mädchen entfliegen, wurde jedoch von drei Jugendlichen des Ortes ermordet.6 Nach Herzogswalde führte der Weg weiter über Niederschöna nach Freiberg, Chemnitz, Zwickau, Reichenbach und Plauen. Im vogtländischen Oelsnitz wurden 179 marschunfähige Gefangene in offenen Güterwagen ins böhmische Svatava (Zwodau) gebracht. Nur noch 621 Frauen und Mädchen kamen am 6. März 1945 im Flossenbürger Außenlager in Helmbrechts in Bayern an.7
Nach Auflösung des Außenlagers Helmbrechts mussten die Überlebenden am 13. April 1945 erneut zu einem 250 km langen Marsch aufbrechen. Die völlig entkräfteten Frauen kamen am 3. Mai 1945 im böhmischen Volary an, ein Teil wurde noch weiter nach Prachatice getrieben. Am 6. Mai 1945 wurden sie von amerikanischen Truppen befreit. Nur 138 der Frauen und Mädchen, die am 21. Januar in den Außenlagern Schlesiersee I und II aufgebrochen waren, überlebten den Marsch. Sie hatten eine Strecke von über 800 Kilometern zurückgelegt. Die genaue Anzahl der Hunderten Todesopfer ist unbekannt. Schätzungsweise 20 bis 30 Frauen gelang die Flucht.8
Durchzug von zwei Todesmärschen aus Außenlagern des KZ Buchenwald durch den Tharandter Wald im April 1945
Der Tharandter Wald war im April 1945 nochmals Durchzugsgebiet von zwei kurz aufeinander folgenden Märschen aus zwei Außenlagern des KZ Buchenwald. Der erste Marsch von etwa 700 männlichen, teils jüdischen französischen Gefangenen des Buchenwalder Außenlagers Neu-Staßfurt war bereits seit 11. April unterwegs und erreichte den Tharandter Wald vermutlich am 20. April. Neu-Staßfurt lag 170 Kilometer entfernt vom Tharandter Wald. Die Gefangenen waren aufgrund von Umwegen bis dahin aber wohl eine viel weitere Strecke gegangen. Beim Durchzug durch Fördergersdorf, Kurort Hartha, Grillenburg, Klingenberg und Colmnitz starben mindestens fünf Gefangene oder wurden ermordet.9 Die Strapazen waren im Tharandter Wald aber noch nicht zu Ende. Nach weiteren Stationen durchs unwegsame Erzgebirge endete die Tortur erst 17 Tage später am 8. Mai in Annaberg, wo sie von der Roten Armee befreit wurden. Mindestens 221 Gefangene verloren auf diesem Todesmarsch ihr Leben 10
Bereits am 22. April 1945 kam ein weiterer Todesmarsch im Tharandter Wald an. Es handelt sich um den Tross aus dem Lager Markkleeberg, das wie Neu-Staßfurt ebenfalls Außenlager von Buchenwald war. Im Lager Markkleeberg waren 1.300 ungarische Jüdinnen und 250 Französinnen eingesperrt, die Zwangsarbeit für die Junkers Flugzeug- und Motorenwerke AG Dessau leisten mussten. Am 13. April 1945 musste ein Großteil der Frauen – es waren etwa 1.540 – den Todesmarsch mit Ziel Theresienstadt antreten. Unterwegs gelang mehreren die Flucht. Die Route über Wurzen, Meißen und Freital war voller Umwege. Sieben Tage nach ihrem Aufbruch in Markkleeberg und nach weit über hundert Kilometern Strecke erreichten die verbliebenen, sicher noch über 1.000 Frauen um den 22. April 1945 Tharandt. Am Folgetag mussten die Frauen weiterlaufen. Im Zusammenhang mit dem Weg durch den Tharandter Wald sind mindestens drei Todesfälle belegt.11 Von den ursprünglich gestarteten Frauen kamen in kleineren Gruppen zwischen 29. April und 4. Mai 1945 insgesamt 699 in Theresienstadt an. Die genaue Zahl der Toten ist bislang nicht bekannt.12
1. Die Transporte von Gefangenen, die teils in überfüllten Viehwaggons erfolgten, und die weiten Gewaltmärsche, bei denen unzählige Menschen an Erschöpfung starben oder vorsätzlich vom Wachpersonal umgebracht wurden, werden häufig als „Evakuierungen“ bezeichnet. Um der damit einhergehenden Verharmlosung entgegenzuwirken, verwenden wir, wie andere Forschende auch, die Bezeichnungen Todesmarsch und Todestransport. Vgl. zu der Diskussion dieser Begriffe z.B. Greiser 2008, S. 10, Anm. 8. /// 2. Vgl. Brenner u.a. 2018, S. 385–400. /// 3. Vgl. Winter 2016, S. 157, S. 173 und Fritz 2016, S. 154. /// 4. Beiträge zum Durchzug dieses Todesmarschs durch Herzogswalde und zu der Ermordung des jüdischen Mädchens sind zur Veröffentlichung 2024 vorgesehen. Vgl. zu diesem Todesmarsch auch die Online-Ausstellung Yad Vashem 2023. /// 5.–8. Vgl. Brenner 2014, S. 15, S. 56, Brenner u.a. 2018, S. 534f. und Blatmann 2011 (2008), S. 174. /// 9. Siehe zu diesem Todesmarsch und zu den Todesopfern die Beiträge „Ankunft und Station des Todesmarschs aus dem KZ-Außenlager Neu-Staßfurt in Kurort Hartha am 20. April 1945“ und „Weiterzug des Todesmarschs aus dem KZ-Außenlager Neu-Staßfurt von Kurort Hartha Richtung Röthenbach am 21. April 1945“. /// 10. Vgl. Brenner u.a. 2018, S. 542f. /// 11. Beiträge zum Durchzug dieses Todesmarschs sind zur Veröffentlichung 2024 vorgesehen. /// 12. Vgl. Brenner u.a. 2018, S. 499f.
Anmerkung zur Karte: Die Routen der drei Todesmärsche wurden gemäß den in Brenner u.a. 2018 aufgeführten Stationen sowie den dort beigefügten Karten gezeichnet, teils bei vorliegenden anderen Informationen verändert.