Manche der Menschen, die nach der Bombardierung Dresdens in den Orten des Tharandter Waldes ankamen, hatten schon ein langes Fluchtschicksal hinter sich.
Das galt etwa für Vera und Theodor Baumann, wie ihr heute im Kurort Hartha lebender Enkel bei seinen Familienforschungen herausgefunden hat: Die beiden waren Deutschbalten, stammten ursprünglich aus Riga und hatten die lettische Staatsbürgerschaft. Nachdem im geheimen Zusatzprotokoll des Nichtangriffsvertrags – des „Molotow-Ribbentrop-Paktes“ – vom 24. August 1939 die Umsiedlung der Deutschbalten von der nationalsozialistischen Regierung des Deutschen Reiches festgelegt wurde, mussten 52.500 Menschen Lettland verlassen. Das galt auch für die Baumanns, die Ende 1939 gegen ihren Willen umgesiedelt wurden und nach Poznań (dt. Posen) kamen. In dem Gebiet, was kurz vorher von der Deutschen Wehrmacht völkerrechtswidrig annektiert worden war und die Bezeichnung Reichsgau Wartheland (kurz Warthegau) bekommen hatte, etablierten die Nationalsozialisten mit Exekutionen und Massenverhaftungen einen systematischen Terror gegen die polnische Zivilbevölkerung, darunter viele Jüdinnen und Juden. Sie wurden aus ihren Häusern und Wohnungen vertrieben, um neben Deutschen auch die vielen Deutschbalten dort ansiedeln zu können.1
Theodor Baumann war zu dem Zeitpunkt der Umsiedlung nach Posen bereits 53 Jahre, seine Frau Vera 47 Jahre alt. Mit nach Posen kamen der 24jährige Sohn Leonid und die 20jährige Tochter Sigrid, die dort jedoch nicht lange blieben. Leonid wurde zu einer Nachrichteneinheit der Wehrmacht eingezogen, Sigrid als Funkerin eingesetzt, beide in unterschiedlichen Regionen Europas. Als die Rote Armee Anfang 1945 in die Nähe von Posen vorrückte, waren die Baumanns auch dort nicht mehr sicher und flüchteten mit unbekanntem Ziel gen Westen. Sie erreichten schließlich nach der Zerstörung Dresdens im Februar oder März 1945 Kurort Hartha und kamen in einem Haus in der Talmühlenstraße unter.
Dass das Ehepaar Baumann überhaupt hierher kam, war ein Zufall. Die beiden hatten auf der Flucht eine Dame kennengelernt, die ebenfalls aus dem Baltikum stammte und die Beziehungen nach Tharandt und Kurort Hartha hatte. Sie ermutigte die Baumanns, ihr zu folgen. Dieser Zufall war nicht nur für die beiden von Belang, die in Hartha blieben und fast 1.000 Kilometer von Riga entfernt für die ganze Familie eine neue Heimat fanden. Denn noch 1945 kamen die Tochter und 1947 der Sohn aus englischer Kriegsgefangenschaft zurück zur Familie.
Die Anwesenheit der Baumanns bekam zum Kriegsende für den Ort eine große Bedeutung, denn sie waren im Mai 1945 an der Bewahrung großer Bereiche des Ortsteils Hintergersdorf vor der Zerstörung beteiligt. Da sie außer Deutsch und Lettisch auch Russisch sprachen, konnten sie die Verhandlungen von Dorle Schubert mit dem Kommandierenden der Roten Armee übersetzen. Aber dazu an anderer Stelle näheres…
1. Vgl. u.a. Sakson 2014 (2010), S. 3ff. /// Alle anderen Informationen im Text lt. Baumann 2021, S. 1–2 und Baumann 2023.